Bist du Kreativ?

Immer wieder treffe ich auf Menschen, die mir sagen, dass sie nicht kreativ seien. Dass sie andere bewundern, die etwas gestalten können. Dass sie nicht malen oder zeichnen könnten. Sie sagen oft, dass sie in anderen Dingen gut seien. Viele erzählen mir dann, dass sie eigentlich auch gerne kreativ sein würden, sich aber nicht trauen.

Ich glaube, dass wir als Gesellschaft „Bedeutung“ und „Leistung“ so wichtig gemacht haben, dass wir die Essenz des Gestaltens und der kreativen Arbeit komplett verloren haben. Wenn du denkst, du seist nicht kreativ, kann es gut sein, dass du eine bestimmte Erwartung an Kreativität hast. Dass sie einem bestimmten Ablauf folgen und – noch wichtiger – ein Ergebnis liefern muss. Dass das Ergebnis sich an einem verinnerlichten Maßstab beweisen soll und die Arbeit einen bestimmten Zweck erfüllen muss.

Wenn wir kleinen Kindern ein Blatt Papier hinlegen und ihnen einen Stift in die Hand drücken, fragen sie nicht: „Was soll ich machen?“ Sie fangen einfach an. Wenn du jemals ein zweijähriges Kind hast malen sehen, weißt du, was ich meine. Es ist, als würden die kleinen Hände fremdgesteuert über das Papier fliegen. Ohne Zweifel oder Fragen bewegt sich der Stift mit hoher Geschwindigkeit und zieht eine Linie nach der anderen. Das Kind fragt sich nicht, was daraus werden soll oder was der Zweck des Ganzen ist. Nein – es macht einfach. Es malt. Schön oder hässlich existiert nicht. Selbst die Eltern bewerten das Bild (meistens) nicht, sondern freuen sich einfach darüber, dass ihr Kind malt.

Wenn Kinder spielen, sind sie nicht mit einem Endziel beschäftigt. Sie denken an keinen Zweck oder Nutzen. Sie spielen einfach. Während sie spielen, haben sie die Möglichkeit, alles zu sein, zu werden oder zu erschaffen. Nur die eigene Vorstellungskraft ist die Grenze. Dabei sind sie ganz im Moment und vergessen oft komplett die Zeit. Sie tauchen tief ein in ihre Fantasie.

Irgendwann beginnen wir, unsere Arbeit und unser Tun zu kategorisieren und zu bewerten. Wir tun kaum noch etwas ohne Zweck – nur um des Tuns willen. Selbst dem Leben versuchen wir, einen übergeordneten Zweck zu geben, zum Beispiel durch Religion. Aber was ist mit dem Leben selbst? Wenn wir nur leben, um zu sterben, verpassen wir das Leben. Wir leben jetzt – hier. Wir riechen, schmecken, fühlen, sehen und hören genau in diesem Moment. Wir müssen das nicht rechtfertigen mit einem Ziel oder Nutzen, mit einem Zweck oder Konzept. Wir müssen einfach sein.

Prof. Dr. Mihály Csíkszentmihályi, einer der Begründer der Positiven Psychologie, hat herausgefunden, dass Menschen, die sich vollständig auf eine Tätigkeit konzentrieren und dabei völlig aufgehen, in den sogenannten „Flow“ geraten. Sie vergessen die Zeit und brauchen kein Essen oder Trinken. Dabei stellte sich heraus: Die Beschäftigung an sich wirkte erfüllend – nicht das Ergebnis! Genau darum geht es auch bei kreativer Arbeit.

Der Nachteil von visueller, bildender Kunst ist, dass sie ein sichtbares Ergebnis hinterlässt. Etwas, das wir betrachten (und bewerten) können – ähnlich wie beim Schreiben. Wenn wir jedoch tanzen, zählt automatisch nur der Moment der Bewegung. Danach ist er vorbei. Er existiert nicht mehr. Selbst der Tänzer sieht sich dabei nicht. Das Gleiche gilt für Musik oder Schauspiel. Wenn wir ein Lied singen, ist es vorbei, sobald es endet. Wir sind in diesem Moment mit ihm verbunden. Wir bewerten das Singen selbst, nicht das fertige Lied. Das existiert nicht – es sei denn, wir nehmen es auf. Malen ist in gewisser Weise wie dieses Aufnehmen. Wir „nehmen“ unseren Prozess auf, den wir durchlaufen – doch das war nie der Zweck.

Im Prozess des Malens, Singens, Tanzens, Schauspielens oder jeder anderen schöpferischen Tätigkeit liegt der Sinn verborgen. Wir müssen ihn nicht suchen. Wir müssen ihn nicht beurteilen. Wir müssen es einfach tun.